Die koloniale Phase: zentrifugale Infrastruktur
Infrastruktur kann als eins der Hauptinstrumente des Kolonialismus zur Hegemonisierung und Ausbeutung eines Kontinents gelten. Mit Beginn der Kolonialisierung setzten die französischen und britischen, aber auch die belgischen und portugiesischen Kolonialmächte Infrastruktursysteme wie Häfen, Straßen und Eisenbahnstrecken ein, um sich Zutritt zu Territorien zu verschaffen und um wertvolle Ressourcen aus dem Inneren des Kontinents an die Küste und von dort in die europäischen Metropolen zu transportieren. Die Infrastruktur war deshalb nicht nur eine technische Einrichtung zum Transport, sondern vielmehr ein territoriales Kontrollsystem mit weitreichenden Auswirkungen auf die lokalen Gesellschaften.
Die koloniale Infrastruktur auf dem afrikanischen Kontinent folgte einer zentrifugalen Logik, die vom Inneren des Kontinents bis an die Küste führte. Deren Ziel war es, Ressourcen wie Elfenbein, Gold, Holz, Gummi und landwirtschaftliche Produkte zu den Häfen und von dort aus nach Europa zu transportieren. Dies war einer der Hauptgründe für koloniale Eisenbahnlinien wie die Uganda-Bahn, die vom Victoria-See nach Mombasa am Indischen Ozean1 führte, oder die Bahnstrecke Dakar−Niger,2 die von Bamako, der Hauptstadt Malis (am Niger gelegen), zu der eben umbenannten Hauptstadt des Senegal, Dakar, am Atlantik führte.
Eine Landkarte von 19083 ist bezeichnend für das koloniale Denken hinter der Infrastruktur. Der afrikanische Kontinent ist als Territorium ohne politische Grenzen, ohne Städte – abgesehen von den Endstationen der Bahnlinien – und ohne kulturelle Indikatoren dargestellt. Die einzigen Markierungen gelten den Eisenbahnstrecken: von Port Florence (das frühere Kisumu) nach Mombasa, von Victoria Falls zur Küste von Mosambik, parallel zum Fluss Kongo zum Hafen von Matadi, oder eine einzelne Bahnstrecke, die den Fluss Niger mit dem Fluss Senegal in der Nähe seines Deltas am Hafen der Stadt St. Louis verbindet. Gebirgszüge, Flüsse und Seen sind nur äußerst abstrakt wiedergegeben. Diese Karte suggeriert, dass der Kontinent zur Erschließung bereitsteht und seine Infrastruktur unbeeinflusst von Geografie und Grenzen ist. Es ist eine Darstellung, die naiv erscheint, während sie doch gleichzeitig technokratisch, utopisch und beinahe totalitär ist.
Obwohl die meisten der bestehenden oder geplanten Eisenbahnlinien auf der Karte vom Inneren des Kontinents zu dessen Küste führen, gibt es eine bedeutende Verbindung: Als gestrichelte Linie angezeigt und damit als geplante Bahnlinie zu identifizieren, verbindet sie die Stadt Victoria Falls über die Großen Seen Zentralafrikas mit Khartum. Von Khartum aus führt eine bestehende Eisenbahnstrecke nach Kairo und Alexandria, wohingegen Victoria Falls mit Kapstadt verbunden ist. Diese schlichten roten Striche verweisen auf das kühnste Projekt der kolonialen Infrastruktur: Cecil Rhodes’ Traum von einer durchgehenden Straße und Bahnverbindung zwischen Kapstadt und Kairo, die die südlichste Spitze des Kontinents mit dem Norden verbinden sollte. Der Politiker Rhodes war nicht nur ein leidenschaftlicher Anhänger des britischen Imperialismus, sondern in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts auch Premierminister der Kapkolonie. Er war zudem ein Geschäftsmann, der äußerst engagiert in den Bereichen Bergbau und Handel war. Seine Bergbauunternehmen erstreckten sich über den Großteil von Süd- und Ostafrika: Diamantenminen in der Provinz Nordkap, Gold- und Mineralbergbau in den Territorien des Sambesi-Flusses, die später in „Rhodesien“ umbenannt wurden, sowie weitere Konzessionen im Gebiet des Mweru-Sees (zwischen dem heutigen Sambia und dem Kongo gelegen) und in der Region der Großen Seen in Zentral- und Ostafrika. Eine Eisenbahnlinie von Kapstadt nach Kairo sollte durch eine Aneinanderreihung britischer Kolonien und Territorien unter britischem Einfluss führen – während sie zugleich alle Rhodes’ Unternehmungen persönlicher und gewerblicher Art miteinander verbinden würde – und sollte die ultimative Kombination von politischen und wirtschaftlichen imperialen Interessen mit einem umfassenden Infrastrukturprojekt darstellen. Nur Deutsch-Ostafrika – heute Tansania, Burundi und Ruanda – stand diesem utopischen imperialen Traum im Weg. Sogar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Tanganjika britisch wurde, kam es niemals zu einer Fertigstellung der Bahnlinie, was auf die umfassenden Schwierigkeiten in dem Gebiet und die enormen Entfernungen auf dem Kontinent zurückzuführen ist. Selbst wenn die Kap-Kairo-Linie verschiedene Territorien auf dem ganzen Kontinent miteinander verbunden hätte, so ging es doch nicht darum, die unterschiedlichen Völker Afrikas miteinander zu verbinden. Ganz im Gegenteil: Das Ziel bestand darin, koloniale Vorherrschaft zu stützen, und seine Logik war nichtsdestoweniger ausbeutend und zentrifugal zu dem Zweck, Mineralien, Gold und andere Ressourcen an die Küste zu transportieren.
Wege zur Unabhängigkeit
Die meisten Länder Afrikas unterhalb der Sahara erlangten ihre Unabhängigkeit zwischen dem Ende der 1950er- und der Mitte der 1960er-Jahre. Sie eröffnete Möglichkeiten für ein neues, groß angelegtes Infrastrukturprojekt, das auf einer ganz anderen Art von Logik aufbaute. Ab Ende der 1960er-Jahre wurde der Plan für ein transkontinentales Autobahnnetz entworfen. Die erste der geplanten Routen sollte Lagos in Nigeria mit Mombasa in Kenia verbinden und den Kontinent damit von Westen nach Osten durchkreuzen.4 Dieser Plan für eine einzige Route wurde rasch zu einem Masterplan für den Trans-African-Highway erweitert: ein System von neun Hauptfernstraßen, die den gesamten Kontinent durchziehen sollten, um Kairo über Algier mit Dakar, Dakar über N’Djamena mit Dschibuti, Tripolis mit Kinshasa und schließlich Kairo über Nairobi mit Kapstadt zu verbinden. Es war das erste Mal, dass diese gerade erst unabhängig gewordenen Länder selbst über Standort, Route, die Art und den Zweck der umfassenden Infrastruktur entscheiden konnten. Die den Kontinent durchschneidende Autobahn sollte die jungen Nationen miteinander verbinden und für den Austausch von Personen und Waren über Nationalgrenzen hinweg sorgen. Der Trans-African-Highway stellte demzufolge eine Bestätigung ihrer Unabhängigkeit und Souveränität dar und war gleichzeitig die physische Manifestation eines unabhängigen Afrikas.
Im Zentrum dieser Planungen stand die Wirtschaftskommission für Afrika (Economic Commission für Afrika, ECA) der Vereinten Nationen unter dem Vorsitz von Robert Kweku Atta Gardiner. Der 1914 geborene Wirtschaftswissenschaftler und Staatsbeamte aus Ghana hatte am Fourah Bay College in Freetown (Sierra Leone), an der Cambridge University und an der University of London studiert. Nach einigen Jahren als Leiter von Ghanas Verwaltungsdienst wurde er 1959 stellvertretender Exekutivsekretär der Wirtschaftskommission für Afrika. Anfang der 1960er-Jahre pendelte er zwischen dem ECA-Hauptquartier in Addis Abeba und dem Kongo, wo er im Auftrag von UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld die Verhandlungen zur Neuorganisation der kongolesischen Armee leitete. 1963 wurde er zum Exekutivsekretär der ECA ernannt und kehrte nach Addis Abeba zurück. Als Gardiner der ECA beitrat, waren die meisten seiner Mitarbeiter keine Afrikaner. »Gardiner war ein überzeugter Vertreter der ›Afrikanisierungs‹-Politik, wobei er sich der Einschränkungen, mit denen diese zu kämpfen hatte, stets bewusst blieb. Er förderte nicht nur die ›Afrikanisierung‹ der ECA-Mitarbeiter, sondern auch die Wissensgrundlage, auf der die Arbeit der UNECA gründete. Er war überzeugt, dass die universalistischen Wissensansprüche von Entwicklungsökonomien der afrikanischen Realität angepasst werden mussten.«5 Wir können davon ausgehen, dass diese Ansichten zur »Afrikanisierung« der Gesamtstrategie für die Umsetzung eines transkontinentalen Autobahnnetzes für Afrika zugrunde lagen. Anstelle eines Autobahnnetzes mit einer europäischen und damit kolonialen Logik sollte das neue Fernstraßensystem einer afrikanischen Logik folgen. Gardiner war zu beträchtlicher Bekanntheit gelangt und hatte sich einen Ruf erworben, der über den Kreis der internationalen Administration hinwegreichte, wurde er doch im Jahr 1970 zu einer der hundert bedeutendsten Persönlichkeiten der Welt ernannt.6 Dennoch ist das Vermächtnis seiner Amtszeit gemischt und nicht frei von Kritik. »[…] es war ihm nicht gelungen, die Kommission zum Brennpunkt innovativer Entwicklungsansätze zu machen, worauf viele Menschen in Afrika und darüber hinaus gehofft hatten. In der Folge sind Einschätzungen seiner Amtsperiode tendenziell zwiespältig. Sein Nachfolger, der Nigerianer Adebayo Adedeji, äußerte vor allem Kritik an dessen vermeintlichem Mangel an Visionen: ›Robert Gardiner war ein konservativer Wirtschaftswissenschaftler, der nichts Falsches im bestehenden Entwicklungsparadigma sah‹«.7
Die Treffen des Komitees zu Beginn der 1970er-Jahre befassten sich ausschließlich mit der anfänglichen Route von Lagos nach Mombasa. Beim Trans-African-Highway sollte es sich nicht um eine neu errichtete Straße handeln, sondern er sollte hauptsächlich bereits bestehende Straßen nutzen, die verbunden und aufgewertet werden sollten, um so Teil der Autobahn zu werden. Die ursprüngliche Idee bestand darin, die Straßen mit Ölpipelines und Telekommunikationssystemen zu ergänzen, um auf diese Weise ein tatsächlich multimodales Infrastruktursystem zu schaffen.8 Den teilnehmenden Nationen war klar, dass nur wenige Verkehrsteilnehmer tatsächlich die ganze Länge der Autobahn vom Indischen Ozean bis zur Atlantikküste befahren würden. Der Hauptzweck lag in der Vereinfachung des Transports über kürzere Distanzen, aber auch in der Rolle als Zubringer für andere Straßen. Obwohl die Autobahn durch die sechs Länder Nigeria, Kamerun, Zentralafrikanische Republik, den Kongo, Uganda und Kenia laufen sollte, nahmen auch Vertreter zahlreicher anderer Länder und internationaler Organisationen an diesen Treffen teil. Dies ließ sich zum Teil auf die Tatsache zurückführen, dass die Autobahn in Zukunft einfachere Verbindungen und Verknüpfungen zu den Nachbarländern gewährleisten sollte, an denen sie in relativ geringer Entfernung entlangführte, wie dem Tschad. Internationales Interesse an dem Projekt wies ferner auf die Notwendigkeit einer finanziellen Unterstützung durch beteiligte Länder wie Deutschland, Japan und die USA hin, aber auch durch internationale Organisationen wie die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Teil der Weltbank) und die Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen.
Die erste Route verdeutlichte zugleich den Interessenskonflikt zwischen nationalen und internationalen Agenden. Die Autobahn, die aus Nigeria kam, sollte die Grenze zu Kamerun nahe der Stadt Mamfe überqueren und das Land dann von Westen nach Osten durchziehen. Die Hauptstadt Yaoundé sollte sie dabei umgehen, und auch die größte Stadt, Douala, gleichzeitig der Hauptseehafen des Landes, lag nicht einmal in der Nähe der Fernstraße. Daher hatte die Autobahn für Kamerun selbst nur einen geringen strategischen Nutzen. Ähnlich war die Situation im Kongo, wo die Straße durch die nordöstlichen Regionen des Landes, durch bekannt schwieriges Territorium und Tausende Kilometer von der Hauptstadt Kinshasa entfernt, führen sollte. In einem Land, das etliche Abspaltungsversuche erlebt hatte, wurde die Errichtung einer Infrastruktur, welche weit entfernte Regionen miteinander verband, nicht unbedingt als Beitrag zur Einheit des Landes betrachtet. Dieser Interessenskonflikt zwischen den verschiedenen nationalen Agenden und den kontinentalen sowie den unabhängigen afrikanischen Bestrebungen sollte den Bau des Trans-African-Highway auch weiterhin behindern.
Der Trans-African-Highway
Anfang der 1970er-Jahre bestanden bereits konkrete Pläne zur Ausweitung des Autobahnnetzes, um zusätzliche transkontinentale Autobahnen miteinzubeziehen wie den Trans-West-African-Highway von Dakar nach N’Djamena (damals als Fort Lamy bekannt) und sein Gegenstück an der Küste von Nouakchott über Dakar nach Lagos, die Trans-Sahara-Straße, die die Sahara von Nordafrika nach Mali durchquert, sowie den Trans-East-African-Highway, der von Kairo, ganz im Norden des Kontinents, bis nach Gaborone, der Hauptstadt Botswanas, reicht und an der Grenze zu Südafrika liegt. Im Zuge einer ECA-African-Highway-Konferenz, die 1978 in Bangui tagte, fand nochmals eine Erweiterung statt. Dort wurde ein umfassender Plan vorgelegt, demzufolge insgesamt neun Routen den Großteil des afrikanischen Kontinents miteinander verbinden sollten.9
So ausgedehnt diese neue Landkarte jedoch erscheinen mochte, war sie doch weder neutral noch unabhängig von der Politik. Einige Beispiele sollen dies illustrieren. Die Route entlang der marokkanischen Küste von Rabat in Richtung Süden verließ die Küste in der Nähe von Agadir, erstreckte sich von dort weiter über das Atlasgebirge, machte einen kurzen Abstecher nach Algerien, in die Nähe der Stadt Tindouf, und führte dann weiter nach Mauretanien, wobei sie das Territorium der Westsahara durchquerte, wo erst 1976 ein Konflikt in Zusammenhang mit der Entkolonialisierung und Besetzung durch Marokko ausgebrochen war. Eine Straße durch die besetzte Westsahara zu planen, hätte die ECA gezwungen, Stellung in diesem innerafrikanischen Konflikt zu beziehen, entweder als Unterstützer der marokkanischen Besetzer oder für die Unabhängigkeit der Sahrauis, was die ECA beides nicht wollte.
Es war auch kein Zufall, dass die Routen der Highways kurz vor der Grenze Südafrikas endeten, wo eine Minderheitsregierung immer noch uneingeschränkt das Apartheid-Regime durchsetzte. Andererseits hatte das portugiesischsprachige Afrika eben erst seine Unabhängigkeit erlangt, und zwar in blutigen Kriegen, die rasch in Bürgerkriege ausarten sollten – im Fall Angolas zu einem, der mehrere Jahrzehnte andauerte. Sogar das Ende der Minderheitsregierung in Zimbabwe (damals Südrhodesien) zeichnete sich bereits ab, weshalb die neueste Route nun eine Anbindung Angolas, Mosambiks und Zimbabwes an das System des Trans-African-Highway vorsah. Der Masterplan für diese Autobahn ist demzufolge ebenso sehr das Ergebnis einer strategischen Planung wie der Bewältigung politischer Entwicklungen.
In kleinerem Umfang sah die Karte einen reibungslosen und scheinbar grenzenlosen Reiseverlauf vor, der tatsächlich jedoch nicht gegeben war. Alles in allem geht die Überquerung von Grenzen auf dem afrikanischen Kontinent oftmals mühsam und quälend langsam vor sich. Doch auch jenseits dieser bürokratischen Unannehmlichkeiten weist die Infrastruktur oft Lücken oder Unterbrechungen auf, die nicht nur entwicklungstechnischer oder administrativer Natur sind, und die auf keiner Karte stehen. Der Trans-West-African-Highway, der von Dakar aus nach Süden verläuft, muss den Fluss Gambia kreuzen, um das übrige Land durchqueren zu können – ein Weg, der jedoch nur mittels einer Fähre möglich ist, da sich Gambia seit der Unabhängigkeit weigert, eine Brücke über den Fluss zu bauen. Gambia vertritt die Ansicht, dass der Senegal einen größeren Nutzen aus der Brücke zöge, und lehnte sogar das Angebot des Nachbarlandes ab, die Finanzierung der Errichtung komplett zu übernehmen; durch diese Weigerung hat Gambia ein Druckmittel bei Verhandlungen an der Hand. Die ehemalige britische Kolonie, die sich zu beiden Seiten des Flusses erstreckt, ist eine lang gestreckte Enklave, die tief in den Senegal hineinreicht und einen Großteil der ehemaligen französischen Kolonie in zwei Hälften teilt. Neben der Angst vor einer möglichen Unterbrechung des Verkehrsflusses entlang des Gambia und zum Hafen in Banjul, können die Behörden aufgrund der fehlenden Brücke über den Gambia die Gebühren und Steuern für die Überquerung nach Belieben anheben und gleichzeitig etliche Jobs im Fährverkehr schaffen. Dieser Konflikt zwischen dem Senegal und Gambia ist zum Teil dermaßen ausgeartet, dass die Grenze zwischen beiden Ländern für mehrere Wochen
geschlossen wurden und der Senegal bereits drohte, mithilfe Chinas einen Tunnel zu unter der Enklave zu graben.10
In diesem Sinn lassen sich eine ähnliche Blauäugigkeit und utopische technokratische Ideologien identifizieren, wie sie auch in der kolonialen Eisenbahnkarte von 1908 vorherrschten, was (abzüglich der kolonialen Bestrebungen) genauso auf die Karte des Trans-African-Highway zutrifft. Diese Karte ignoriert die strategischen Sperren und Unterbrechungen, die politischen Spannungen und geografischen Herausforderungen vor Ort. Sie geht von einem völlig reibungslosen Ablauf aus, der bislang niemals erreicht wurde. Tatsächlich ist ein Großteil des transkontinentalen Autobahnsystems noch weit entfernt von der Fertigstellung. Eine Überprüfung des Trans-African-Highway durch die African Development Bank im Jahr 2003 hat ergeben, dass mehr als die Hälfte der individuellen Routen noch nicht befestigt war und einige Hauptverbindungen immer noch fehlten.11
Cairo-Road, Lusaka
Viele der Straßen, die in den Masterplan für den Trans-African-Highway aufgenommen wurden, entstanden ursprünglich während der Kolonialzeit. Einige von ihnen gehen sogar auf noch frühere Wege zurück und lassen sich bereits in die vorkoloniale Zeit datieren. Eine dieser Straßen ist jene von Nairobi nach Mombasa, die sich auf einer uralten, von den Swahili-Händlern genutzten Karawanenroute befindet und das ostafrikanische Hochland mit den Küstenregionen verbindet. Selbst wenn die Straße in der Kolonialzeit errichtet wurde (parallel zur Bahnlinie, die den Indischen Ozean mit Lake Victoria verbindet), gilt sie als strategische Infrastruktur, die ganz wesentlich nationalen Interessen entsprach. Das koloniale Erbe war dabei kein Thema. In anderen Fällen ist jedoch die Frage berechtigt, ob das koloniale Erbe einen Einfluss auf die Art und Weise hatte, wie eine Infrastruktur nach der Entkolonialisierung betrachtet wurde.
Die Cairo-Road ist die Hauptverkehrsader durch das innerstädtische Handelszentrum von Lusaka, der Hauptstadt Sambias. Sie ist zudem Teil des Trans-African-Highway Nr. 4. Ihr Name geht auf die Tatsache zurück, dass sie Teil der Straße ist, die Kapstadt mit Kairo verbindet. Lusaka wurde in den 1920er-Jahren als neue Hauptstadt des kolonialen Nordrhodesien gegründet und sollte Livingstone im Süden ersetzen zu einer Zeit, als sich die Kolonie in Richtung einer Rohstoffwirtschaft entwickelte, die auf dem Kupferabbau im Norden des Landes gründete. Die zentrale Lage Lusakas innerhalb von Nordrhodesien galt als strategisch wichtig für die Verbindung der Minen des sogenannten Kupfergürtels mit einer Infrastruktur, die sich im Hochland im Zentrum des Landes fand. Doch diese Infrastruktur war
zugleich ein Ausdruck von Cecil Rhodes’ Traum, den äußersten Süden des Kontinents mit dem äußersten Norden zu verbinden. Sie war Teil der Infrastruktur, die wie keine andere für die Ausbeutung des Kontinents stand. Die Cairo-Road, die sich auf einer Nord-Süd-Achse durch Lusaka erstreckte, war die koloniale Infrastruktur schlechthin. Wie geht ein Land nach der Entkolonialisierung mit einer Straße um, die dermaßen symbolisch aufgeladen ist? Einige der wichtigsten Institutionen von Lusaka wie der zentrale Markt, ein großes Kaufhaus, eins der größten Hotels und sogar der Hauptbahnhof der Stadt befanden sich direkt an oder in unmittelbarer Nähe dieser Straße. Die Verlegung wäre nicht nur mit einem enormen finanziellen Aufwand verbunden gewesen, sondern hätte auch eine völlige Neustrukturierung der Stadt nach sich gezogen.
Im Gegensatz zu Staaten wie Kenia oder der Elfenbeinküste, die das kapitalistische System mit offenen Armen begrüßten und sich nach der Entkolonialisierung ganz eindeutig an der westlichen Welt orientierten, wählte Sambia mit seinem Präsidenten Kenneth Kaunda einen anderen Weg. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit 1964 trat Sambia der Bewegung der Blockfreien Staaten bei. Diese Gruppe von Nationen sollte – und soll immer noch – eine alternative Weltordnung repräsentieren, unabhängig von den beiden Supermächten. Die Bewegung der Blockfreien Staaten, die weder dem kapitalistischen Block noch dem Sowjetblock angehörte, wurde 1956 von Jugoslawien, Indien, Indonesien, Ghana und Ägypten gegründet und vertrat die Interessen der Nationen, die erst seit Kurzem unabhängig waren, sowie jene der Staaten der sogenannten Dritten Welt. Dem auf Konsum ausgerichteten Fokus der westlichen Welt und deren imperialem und kolonialem Erbe stand Kaunda kritisch gegenüber. Die Bewegung der Blockfreien Staaten sah sich selbst als Verfechter der Entkolonialisierung12 – ein Prozess, der weit über die politische Dimension hinausgehen sollte und auch die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Dimension mit einschloss. Sambia nahm eine ganz wesentliche Rolle bei der Gestaltung der Organisation ein und war 1970 Gastgeber des dritten Gipfels der Bewegung der Blockfreien Staaten, die in Lusaka stattfand. Kaunda wurde im selben Jahr zum Generalsekretär der Organisation gewählt.
Zur Zeit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1964 war Sambia – mit Ausnahme von Südafrika – die stärkste Wirtschaftsmacht Afrikas südlich der Sahara mit einem Pro-Kopf-Einkommen, das dem Portugals glich. Doch auch nach der Unabhängigkeit befanden sich die Hauptminen, Banken und Versicherungsunternehmen immer noch in der Hand ausländischer Investoren, die in erster Linie in den USA, Großbritannien und Südafrika ansässig waren. Daher entschloss sich Präsident Kaunda 1968 dazu, einen Kurs der Verstaatlichung einzuschlagen, was die westliche Welt als Schlag ins Gesicht empfand. Trotz heftiger Gegenwehr gingen die Eigentumsrechte an den meisten Minen, Banken und Versicherungen an den Staat Sambia über. Darüber hinaus wurden drei Unternehmen gegründet – INDECO (Industrial Development Corporation), MINDECO (Mining Development Corporation) und FINDECO (Financial Development Corporation) –, die das Eigentum der gerade verstaatlichten Schlüsselindustrien innehatten und diese betreiben sollten. Die neuen, in staatlichem Besitz befindlichen Unternehmen benötigten natürlich neue Unternehmenssitze und neue Gebäude.
Nachdem man also Großbritannien und die USA vergrämt hatte, überrascht es kaum, dass neue wirtschaftliche Verbindungen mit Ländern gesucht wurden, die ebenfalls eine wichtige Rolle in der Bewegung der Blockfreien Staaten spielten, vor allem das Gründungsmitglied Jugoslawien. 1971 begann die Planung für FINDECO-House, das größte Gebäude Lusakas und Zentrale des gleichnamigen Staatsunternehmens, das sich an einer strategisch wichtigen Stelle entlang der südlichen Ausdehnung der Cairo-Road befinden sollte. Dušan Milenković und Branimir Ganovic, die jugoslawischen Architekten, waren zuvor in Projekte in Belgrad involviert gewesen, darunter der Ušće-Tower als Hauptsitz des Zentralkomitees des Bunds der Kommunisten Jugoslawiens. Das INDECO-House in Lusaka entstand zur gleichen Zeit wie das legendäre FINDECO-House und wurde zudem nur einen Block nördlich von diesem errichtet. Einen Block weiter nach Norden schuf das ortsansässige Architekturbüro Anderson & Anderson das Gebäude der Bank of Zambia. Andere bedeutende Institutionen entlang der Cairo-Road umfassten die Zambian State Insurance Corporation sowie einige Hundert Meter weiter nördlich das PROFUND-House, ursprünglich Sitz des Zambian National Provident Fund, der nationalen Rentenversicherung, das heute die Finanzverwaltung des Landes beherbergt. So kam es also, dass die Hauptsitze der wichtigsten Staatsunternehmen, viele von ihnen erst kurz zuvor verstaatlicht, innerhalb von nur wenigen Jahren entlang der Cairo-Road errichtet wurden. Eine Straße – Teil des Trans-African-Highway –, die davor wie keine andere für Kolonialismus und Imperialismus stand, wurde plötzlich zur physischen und architektonischen Manifestation nationaler Souveränität und wirtschaftlicher Entkolonialisierung und erfand ihre Symbolik damit völlig neu.
Öffentliche Kultur
Auf welche Weise das Autobahn-Projekt in den offiziellen Medien gefeiert wurde, lässt sich gut nachvollziehen. Jede Nation, die Veranstaltungsort der regelmäßigen Trans-African-Highway-Konferenzen war, gab einen Satz Briefmarken heraus, die beispielsweise heroische Illustrationen eines aufgrund der Infrastruktur geeinten Kontinents oder Darstellungen der neuesten Transporttechnologien zeigen. Doch auch abseits der offiziellen Medien finden sich Hinweise für ein gewandeltes öffentliches Verständnis. Immer mehr beliebte Zeitschriften wie die ostafrikanische Ausgabe des Drum Magazine beinhalteten Werbeanzeigen für Privatautos oder sie veröffentlichen Artikel, die sich mit dem Verkehr oder dem individuellen Besitz von Autos befassten. Die Entwicklung des Trans-African-Highway-Projekts fiel mit einem sozialen und wirtschaftlichen Wandel von Gesellschaften auf dem gesamten afrikanischen Kontinent zusammen. So findet sich beispielsweise in der Comicbuchreihe Aya de Yopougon13 die Geschichte von Aya, ihrer Familie und ihren Freunden, die in den 1970er-Jahren in Abidjan (Elfenbeinküste) leben. Sie sind Teil einer sich rapide modernisierenden Gesellschaft, sie tanzen in Bars, sie verlieben sich und sie sehen die Entstehung einer futuristischen Architektur in der Stadt. Abgesehen von der Architektur scheint es das Auto zu sein, das die größte Auswirkung auf das alltägliche Leben hat. Oft springen Aya und ihre Freunde in ein Taxi und lassen sich in andere Stadtviertel kutschieren. Moussa, ein verwöhnter Sohn wohlhabender Eltern, träumt davon, eines Tages ein riesiges amerikanisches Cabrio zu fahren, während sein Vater tagtäglich in einem großen Citroën DS ins Büro gefahren wird. Die Gesellschaft ist mobil geworden. Der wirtschaftliche Aufschwung hat eine rasch anwachsende Mittelklasse hervorgebracht, die bestrebt ist, an dieser Kultur der Mobilität teilzunehmen.
Etliche weitere Romane von Schriftstellern wie Chinua Achebe, Ngũgĩ wa Thiong’o oder V. S. Naipaul befassen sich mit der Frage, wie die Gesellschaft mit Themen der Modernisierung in der Epoche der Entkolonialisierung umging. Naipauls Buch A Bend in the River (dt. An der Biegung des großen Flusses) beschreibt zum Beispiel eine neue Stadterweiterung mit modernen Häusern und befestigten Straßen einschließlich Straßenbeleuchtung, errichtet von einem autokratischen Präsidenten.14 In seinem Roman Petals of Blood (dt. Verbrannte Blüten) beschreibt Ngũgĩ wa Thiong’o allerdings, wie diese Modernisierung und die neue Infrastruktur nicht von allen gut geheißen wurden: „Ich dachte an das Flugzeug, den Landrover und das Vermessungsteam, das erst am Tag zuvor rote Stöcke in Ilmorog gepflanzt hatte: eine Fernverkehrsstraße durch Ilmorog. Plötzlich überkam mich Gelächter beim Gedanken an diesen widersinnigen Plan. Warum, so fragte ich mich, bauten sie eigentlich keine kleineren, zweckdienlicheren Straßen, ehe sie große Fernstraßen planten? Dann wäre wenigstens meine Reise nach Ruwa-ini und zurück schneller vonstattengegangen, und ich wäre viel weniger müde nach Hause gekommen, und ich hätte sogar diese Begegnung mit dem Fremden vermeiden können. Aber genauso schnell wurde ich bitter und stellte mich auf die Seite der Bauern von Ilmorog; niemals würde man eine Straße bauen – auf alle Fälle nicht, ehe Geld im Überfluss fließen würde.“15 Sogar während die Fortschritte einer neuen Infrastruktur in ganz Afrika gefeiert werden, bleibt der Highway – zumindest teilweise – ein Projekt der herrschenden Klasse, das oft mit nur wenigen Vorteilen für die Gesamtbevölkerung verbunden ist und oftmals Landspekulation und Korruption mit sich bringt.
Im Laufe der 1980er-Jahre kollabierten die Volkswirtschaften der meisten Länder Afrikas südlich der Sahara und zahlreiche Nationen wurden zudem von internen Konflikten und Bürgerkriegen heimgesucht. Die öffentliche Finanzierung und die Errichtung groß angelegter Infrastrukturprojekte und des Trans-African-Highway kamen zum Stillstand. Die gegensätzlichen Interessen – ob die Autobahn nun für die Hauptstädte oder die Regionen, die Allgemeinbevölkerung oder die privilegierte Klasse von Vorteil sein würde – sowie die anhaltenden Proteste gegen Infrastrukturprojekte und die damit häufig verbundene Umsiedlung von Teilen der Bevölkerung waren ebenfalls nicht gerade förderlich. Die regelmäßige African-Highway-Konferenz, die alle paar Jahre stattgefunden hatte, wurde nach der letzten Tagung in Kairo 1986 eingestellt. Die Karte des Masterplans für das Autobahnnetz weist weiterhin zahlreiche Lücken und fehlende Abschnitte auf. Die Infrastruktur war die gesamten 1990er-Jahre hindurch in Mitleidenschaft gezogen, der kontinentale Straßenverkehr wurde immer langsamer und teurer.
Eine neue Ära?
Erst nach der Jahrtausendwende nahmen die Investitionen in die Infrastruktur auf dem afrikanischen Kontinent wieder an Fahrt auf. Diesmal jedoch nicht angetrieben von Ideen wie Entkolonialisierung oder einem unabhängigen Afrika, sondern von privaten Unternehmen und oft in Verbindung mit dem Abbau von Ressourcen. Besonders in den 2010er-Jahren fanden umfassende Investitionen in neue Autobahnen und Eisenbahnprojekte in Ländern wie dem Senegal, Kenia, Nigeria und der Elfenbeinküste statt. 2017 eröffnete eine neue Bahnstrecke zwischen Nairobi und Mombasa. Im selben Jahr fand im Senegal die Eröffnung eines neuen internationalen Flughafens statt, der mittels einer ebenfalls neuen, mit Mautstellen ausgestatteten Autobahn, die einen kontrollierten Zugang vorsieht, mit der Hauptstadt Dakar verbunden ist. Und Sambia begann kürzlich mit dem Bau einer neuen, zweispurigen Autobahn, die Lusaka mit dem Kupfergürtel im Norden und außerdem mit dem Kongo verbindet. Die meisten dieser Projekte werden jedoch von ausländischen Konsortien finanziert. Senegals Hauptflughafen wird zum Beispiel von einer türkischen Firma betrieben, während Kenias neue Bahnlinie von der chinesischen Exim Bank finanziert, von der China Road and Bridge Corporation errichtet und von der China Communications Construction Company betrieben wird. Auf der anderen Seite füllen diese riesigen neuen Infrastrukturprojekte einige beträchtliche Lücken im afrikanischen Autobahn- und Eisenbahnnetzwerk oder sie ersetzen veraltete, heruntergekommene Teilstrecken. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob damit die für das Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit vorgesehene Fertigstellung des Trans-African-Highway-Projekts einhergeht oder aber ein neues Kapitel der Kolonialisierung aufgeschlagen wird. Das Trans-African-Highway-Projekt zeigt jedoch die Tatsache auf, dass die Infrastruktur niemals neutral, niemals lediglich eine technische Einrichtung ist. Ihre Untersuchung führt zu einem umfassenderen Verständnis für die sozialen und politischen Transformationsprozesse, in die es eingebettet ist.16
Endnotes
1. Für weitere Informationen zur Eisenbahn in Uganda siehe Henry Gunston, „The Planning and Construction of the Uganda Railway“, in: Transactions of the Newcomen Society, Bd. 74, Nr. 1, 2004, S. 45–71.
2. Für weitere Informationen zur Dakar–Niger-Eisenbahn siehe Julia Coyner Robinson, „Tout Travail Doit Nourrir Son Homme. The Dakar–Niger Railroad and the 1947–1948 Strike in the Political and Labor History of Senegal“, Independent Study Project (ISP) Collection (2007), Paper 189.
3. Wells Missionary Map Co., 1908, Quelle: Library of Congress.
4. United Nations Economic Commission for Africa, Report of the First Meeting of the Trans-African Highway Committee, Addis Ababa, 14.–18. Juni 1971.
5. Samuel Misteli, „Gardiner, Robert Kweku“, in: Bob Reinalda, Kent J. Kille und Jaci Eisenberg (Hrsg.), IO BIO, Biographical Dictionary of Secretaries-General of International Organizations; www.ru.nl/fm/iobio (eingesehen am 26. Januar 2018), übersetzt von Alexandra Titze-Grabec.
6. Donald Robinson, The 100 Most Important People in the World Today, New York 1970.
7. Misteli (wie Anm. 5), übersetzt von Alexandra Titze-Grabec..
8. Economic Commission for Africa (wie Anm. 4), S. 3.
9. Rolf Hofmeier, „Die Transafrikastraßen: Stand der Planung und Realisierung“, in: Africa Spectrum, Bd. 14, Nr. 1, 1979, S. 31–51.
10. „Senegal may tunnel under Gambia“, BBC News, 21. September 2005; http://news.bbc.co.uk/2/hi/africa/4267846.stm (eingesehen am 29. Januar 2018).
11. The African Development Bank, Review of the Implementation Status of the Trans-African Highways and the Missing Links, Bd. 1: Main Report, 2003.
12. Radoslav Stojanovic, „The Emergence of the Non-Aligned Movement: A View from Belgrade“, in: Case Western Reserve Journal of International Law, Bd. 13, Nr. 3, 1981, S. 443–450.
13. Marguerite Abouet, Aya de Yopougon, Paris 2005.
14. V. S. Naipaul, A Bend in the River, ursprünglich herausgegeben von Alfred A. Knopf, 1979.
15. Ngũgĩ wa Thiong’o, Verbrannte Blüten, aus dem Englischen übersetzt von Susanne Koehler, Wuppertal 1981, S. 91 f.
16. Dieser Essay beruht auf einem Forschungsprojekt, das der Verfasser in Zusammenarbeit mit Kenny Cupers (Universität Basel) und Prita Meier (New York University) durchführt.